18. September 2023

«Wochendiagnose: die unvollendete Verfassung»

Wir feiern diese Woche das 175-jährige Jubiläum der schweizerischen Bundesverfassung. Das ist mehr als ein Meilenstein in unserer Geschichte. Es ist der Grundstein für die moderne Schweiz, damals errungen unter dem Eindruck des Sonderbundskriegs, verfassungstheoretisch ein Akt der originären Staatsgründung, der die Schweiz für Demokraten und Liberale weltweit zum Vorbild machte.

Wahrlich ein historisches Ereignis also, das ein Jubiläum verdient. Dabei sollte nicht vergessen gehen, dass der Verfassung von 1848 aus heutiger Sicht wesentliche Züge des schweizerischen Staatsverständnisses noch fehlten, insbesondere das Wahlrecht für Frauen und die direktdemokratischen Instrumente.

Das Bewusstsein für die eigene Unvollkommenheit war aber schon da, und es zeichnet die Verfassungsväter von damals aus, dass sie unser Grundgesetz als offene Verfassung konzipierten, die stets revidierbar bleibt und damit den veränderten Umständen immer wieder angepasst werden kann, sofern Volk und Stände zustimmen.

Das kann natürlich ganz schön ungemütlich werden, insbesondere wenn mit Volksinitiativen Errungenschaften in Frage gestellt oder Bestimmungen vorgeschlagen werden, die nach reiner Lehre mit den dort ebenfalls sehr prominent postulierten Grundrechten eigentlich nicht vereinbar sind. Demokratie kommt nicht ohne Risiko, und die Verfassung – die Grundregeln unseres Staates – sind immer aufs Neue auszuhandeln und auszumehren, mit dem nötigen Respekt für die unterliegenden Minderheiten.

Natürlich liegt in der permanenten Veränderbarkeit höhere Weisheit: Indem sie unvollendet bleibt, nimmt uns die Verfassung dauerhaft in die Verantwortung, unseren Staat demokratisch weiterzuentwickeln.

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